Buchbesprechung

Erstaunliche Wertungen in Seyran Ates,

„Große Reise ins Feuer - Die Geschichte einer deutschen Türkin"

Das im folgenden von mir, Veit Feger, besprochene Buch ist die Autobiographie einer in Deutschland aufgewachsenen, derzeit als Rechtsanwältin in Berlin tätigen türkischstämmigen Frau. Den Verfasser des folgenden Textes haben zahlreiche in dem Buch enthaltene Wertungen verblüfft.

Die Erstausgabe erschien 2003, die Taschenbuch-Ausgabe im Dezember 2006. Der Titel des Buchs ist eine Übersetzung des türkischen Vor- und Zunamens der Autorin Seyran Ates ins Deutsche (Seite 29 der Taschenbuchausgabe, die im folgenden den Zitaten zugrundegelegt wird).

Ich hatte die Autorin Ates in einer Fernsehsendung im Sommer 2006 gesehen und war begeistert von dieser allem nach klugen, tapferen und in ausgezeichnetem Deutsch formulierenden Frau. – Diese Empfindungen waren der Grund, dass ich ihre Selberlebensbeschreibung, als ich diese im Buchladen unter den Neuerscheinungen sah, sogleich erwarb und las.

Die Autorin, geboren 1963, schildert die Herkunftsfamilien ihrer Eltern, ihre eigene Kindheit in der Türkei und in Deutschland und dann den schwierigen Versuch, aus ihrer Familie auszubrechen. Sie erzählt einiges (wenn auch nicht viel und eher ungenau) über ihre Liebschaften mit Männern und Frauen, ihr Jura-Studium, ihre Tätigkeit in einer Anwälte-Gemeinschaftspraxis - und in EIGENER Praxis, über das beinahe tödliche Attentat, das auf sie Anfang der 80er Jahre verübt wurde, über die Strafverfolgung und die Nicht-Verurteilung jenes Deutschtürken, der sie erschießen wollte.

Seyran Ates äußert in dieser Autobiographie dezidierte Ansichten zu vielerlei Themen. Zahlreiche WERTUNGEN der Autorin kamen mir freilich wenig begründet, untereinander widersprüchlich oder gar abstrus vor. Ich fragte mich, wie ein Lektor im renommierten Rowohlt-Verlag es der Autorin antun konnte, sich so ungeschickt zu präsentieren.

Die für mich erstaunlichsten Wertungen beziehen sich auf die Art, wie Ates ihre Eltern rühmt (und andere Eltern runtermacht), auf die Art, wie sie viele Deutsche als fremdenfeindlich und sexversessen kritisiert; erstaunlich war für mich auch, dass sie meint, Deutsche können bei Türken lernen, dass sie aber viele nicht gerade vorbildliche Eigenschaften von Türken notiert.

Glorifizierung der Eltern, obwohl diese ihre Tochter Seyran schikanieren

Die Eltern der Autorin verhalten sich in vielfacher Weise dem Kind und der Jugendlichen Seyran gegenüber ekelhaft (sie beschimpfen und schlagen Seyran häufig, was mehrfach erwähnt wird); dennoch äußert die Autorin immer wieder Verständnis, ja Mitleid gegenüber ihren angeblich so armen armen Eltern.

Auf S. 30 äußert die Autorin binnen eines KLEINEN Abschnitts, ihr Vater habe sie geliebt und liebe sie noch! Zwei Sätze zuvor berichtet sie, ihr Vater habe ihr gegenüber „oft" bedauert, dass sie nicht gleich nach der Geburt umgebracht worden sei.

Als die erwachsene Seyran Ates Opfer eines Attentats wird und nur mit knappster Not überlebt, fällt den Eltern plus Verwandtschaft nichts besseres ein, als der halbtot im Krankenhaus Liegenden oder hilfsbedürftig im Rollstuhl Sitzenden Vorwürfe zu machen, was Schreckliches sie ihren Eltern angetan habe! Wäre sie brav zu hause geblieben, wäre so was nicht passiert!! Ates kommentiert: „Es war unglaublich, mich in dieser Situation so zu behandeln." (161) Trotzdem würde sie ihre Eltern nie in der Art qualifizieren, wie sie es gegenüber der Mutter ihres Freundes tut, die sie als „verhaltensgestört" bezeichnet, obwohl diese Frau sich gegenüber Seyran weit weniger daneben benimmt als deren Eltern.

An dieser wie an zahlreichen anderen Stellen habe ich die intensive Empfindung: „Identifikation mit dem Aggressor". Das Opfer Seyran versucht, das Gute Bild der Eltern zu retten - gegen viele anderslautende Erfahrungen.

Noch einige Beispiele für elterliches Brutalverhalten. Die Autorin schildert, wie ihre Mutter auf die Nachricht reagiert von der ersten Menarche der damals neunjährigen Tochter. Seyran wusste bis dahin nicht, was ihr bei der ersten Monatsblutung widerfährt, und erschrickt zutiefst. Sie wendet sich „verzweifelt" fragend an die Mutter. Diese „schaute ganz erschrocken und knallte mir erst mal eine. Wäre auch ein Wunder gewesen, wenn ich keine Schläge bekommen hätte. Sie sagte, ich hätte ihr das nicht sagen dürfen."

Die Autorin kommentiert: „Das habe ich bis heute nicht verstanden. Wen hätte ich denn sonst um Hilfe bitten sollen, wenn nicht sie?"

Statt ihre Mutter, wie es meines Empfindens angebracht wäre, als Megäre oder mindestens als „verhaltensgestört" J zu beurteilen, beginnt die Tochter zu räsonnieren und stellt die eben zitierte rhetorische Frage.

Das Fazit, das sie aus dem Vorgang zieht, lautet, auf der folgenden Seite: „Die Ohrfeige hatte mir ein für alle Mal klar gemacht, dass meine Mutter nicht die richtige Beraterin bei Menstruationsbeschwerden war." 63/64. That’s all.

Deutschen seien „fremdenfeindlich" – und was waren die Eltern von Ates?

Mehrfach wirft die Autorin Deutschen ein arrogantes oder gar fremdenfeindliches Verhalten gegenüber Türken vor. Dass sich – BEVOR sie irgend einen Kontakt mit Deutschen hat – ihre eigenen ELTERN fremdenfeindlich verhalten, hat sie allem nach nicht gemerkt; jedenfalls kommentiert sie das im folgenden beschriebene Verhalten der Eltern keineswegs als fremdenfeindlich. Seyran Ates schildert, wie sehr die Eltern sich bemühen, bereits ihr kleines Kind von Kontakten mit Deutschen fernzuhalten. Die Eltern hielten, so Ates, die „Ureinwohner" für „böse". Diese „stellten eine große Gefahr für meine jungfräuliche Seele dar. Die sexuelle Revolution Anfang der siebziger Jahre trug ihren Teil dazu bei, dass meine Eltern wenig Vertrauen in den moralischen Zustand der Deutschen hatten, ein Urteil, das ihnen auch nicht wirklich vorzuwerfen ist." S. 66 - Zur Bestätigung, dass die Deutschen moralisch verworfen waren, dient der Autorin ein Erlebnis auf dem Weg von der Wohnung zum Spielplatz: Sie kam da an einer „Ladenwohnung" vorbei, „in die man hineinschauen konnte. Auf dem Boden lagen ... nackte Menschen, Kinder waren auch dazwischen. Ich hatte strengste Anweisung, niemals in den Laden zu schauen und ganz schnell daran vorbeizulaufen. Das Ganze war natürlich ein klarer Beweis dafür, dass die Deutschen ständig Gruppensex und Partnertausch betrieben."

Verklemmte Sexualität

Man stelle sich vor: Das Kind Ates sieht und ERLEBT TÄGLICH Prügel von Seiten seiner Eltern, das Kind sieht auch andere Barbareien innerhalb des Verwandtenkreises. Aber nur der Anblick nackter koitierender Menschen schadet angeblich seiner Seele - eine Ansicht, die bekanntlich auch von Deutschen geteilt wird (die sind schließlich nicht unbedingt vorurteilsloser als ihre türkischen Zeitgenossen).

Das Thema „Partnertausch" taucht in der Autobiographie nochmals auf und wird in ähnlicher Art kommentiert (was meine Interpretation bestätigt): Die erwachsene Seyran Ates zieht mit ihrem temporären Freund in eine Wohngemeinschaft und stellt dann fest, dass das andere Paar dieser WG Partnertausch wünscht. Natürlich wird Ates in der WG nicht vergewaltigt, aber trotzdem ist sie EMPÖRTESTENS über den Wunsch der Mitbewohner!. Sie kommentiert: „Es war schon ziemlich frustrierend, dass meine Eltern im nachhinein irgendwie Recht bekamen. Es gab tatsächlich Deutsche, die Partnertausch betreiben wollten." – Ein Kommentar erübrigt sich.

Dass Sex nur SCHEINBAR im Familienkreis KEIN Thema ist, erzählt uns die Autorin selbst, ganz unschuldig. Gleich nach der Erregung über den sichtbaren Geschlechtsverkehr von Deutschen erzählt sie: „Das Thema Sexualität gehörte insgesamt nicht zu den Themen, über die man in unserer Familie viel sprach. Eine Ausnahme waren Schimpfwörter. Das Wort Nutte oder Hure kam sehr oft vor, wenn ich geschlagen und beschimpft wurde. Ich kannte diese Bezeichnungen schon, bevor ich überhaupt wusste, was Huren sind und machen."

Man muss diese Zeilen „auf der Zunge zergehen" lassen. Zunächst heißt es : über Sexualität werde „nicht viel" gesprochen. Im FOLGENDEN Satz heißt es: Schimpfworte aus dem Sexualbereich wurden häufig und bereits gegenüber sehr kleinen Kindern verwendet.

Solche Widersprüche innerhalb KURZER Textpassagen gibt es mehr. Da heißt es beispielsweise S. 70, die Mutter habe ihren Mann um Erlaubnis gefragt, ob sie in Deutschland kein Kopftuch tragen dürfe. Die Autorin erzählt dann weiter: Seitdem die Mutter nach Mekka gepilgert ist, „trägt sie wieder ein Kopftuch." Ates fährt kommentierend fort: „Meine Eltern sind nach wie vor liberale Moslems.. Sie lassen uns Kinder mit diesem Thema in Ruhe, sie nötigen uns nicht, uns auf die eine oder andere Art und Weise mit dem Islam zu beschäftigen. Der Glaube ist etwas zwischen Allah und dem einzelnen Menschen." Aber in ihrem Buch gibt es mehrere Passagen, in denen die Mutter auch von der ERWACHSENEN Tochter die Erfüllung religiöser Reinheitsgebote fordert, etwa die Entfernung von Körperbehaarung, insbesondere von Schamhaaren.

Was soll man von der oben zitierten Prädikation „liberale Moslems" halten, wenn die Autorin erzählt: „Wochenlang tobte mein Vater, schlug um sich und traf dabei relativ oft mich oder meine Mutter." S. 87

Die Autorin schwärmt mehrfach davon, dass die türkische „Kultur" und die deutsche „Kultur" voneinander lernen sollen. Aber in ihrem eigenen Leben machte sie die Erfahrung, dass sie in der Familie „in erster Linie darauf vorbereitet wurde, irgendwann zu heiraten und meinem Ehemann und meinen Gästen das Leben angenehm zu gestalten." Sie beschreibt sich selbst als „eingesperrt wie in einem Gefängnis ohne Schlösser und Gitter" (80) - In der Schule wurde mir hingegen vermittelt, „dass ich viel lernen und eine Berufsausbildung machen sollte, um selbständig und selbstbestimmt zu leben."

Nachdem die Autorin aus dem Elternhaus geflüchtet ist, „spürte" sie, „wie sehr ich sie liebte und wie weh ich ihnen getan hatte." 111 (Dass solches Spüren eine Sache auf GEGENseitigkeit sein sollte, gerät ihr nicht in den Blick; mehrfach äußert sie, ihre Eltern hätten nicht gespürt, wie es ihr, der Tochter, geht, auch nicht nach dem beinah letalen Attentat.).

Um ihre türkische Herkunft zu „retten", wird nicht einmal der deutsche Freund geschont

Die generelle Verdachtshaltung der Eltern gegenüber Deutschen wird von der Tochter übernommen, ohne dass diese das merkt. Über den Kreis der deutschen Freunde ihres Freundes Stefan, eines elf Jahre älteren Lehrers, heißt es, sie, Seyran, habe diesen Freunden „beweisen" müssen, dass sie „kein kleines Mäuschen war, das sich von einem Deutschen als exotisches Spielzeug hatte fangen lassen." (111). Diese Einschätzung passt eher zu ihrem türkischen Herkunftsmilieu als zu einem deutschen.

Indem sich Seyran als auf ihren Freund Stefan „fixiert" bezeichnet, qualifiziert sie auch eben diesen Freund ab. Wer „fixiert" ist, ist unfrei; die Autorin nennt an dieser Textstelle auch keinerlei positiven Züge dieses Freundes. Dabei tat Stefan (wie sich aus anderen Textstellen ergibt) viel für sie, vor, während und nach ihrer Flucht aus dem Elternhaus und nochmals in der Zeit nach dem Attentat, das sie für Jahre schwer behinderte. Seyran Ates‘ Erklärung für ihre „Fixiertheit": Er war „mein erster Freund, und ich hatte gerade, auf eine für mich sehr brutale Weise, meine Familie verloren." That’s all. (112)

Unter „Kuriosa" möchte ich folgende Stelle einsortieren. Zwei Frauen einer Wohngemeinschaft, zu der auch Ates gehört, kommen nicht gut miteinander aus, „vielleicht weil sie sehr unterschiedlich waren. Anna war eher eine ernste Person, Frieda hingegen mehr esoterisch." 112

Immer wieder die Rechtfertigung eines verblüffenden elterlichen Verhaltens. Nachdem die Autorin aus dem Elternhaus geflüchtet ist, heißt es, die Eltern hätten dringend versucht, sie zu sehen, „weil sie mich so vermissten. Meine Mutter wurde krank, und mein Vater war geknickt. Ihre Welt war zusammengebrochen." (113). Implizit wird hier den Eltern herzliche Liebe zur Tochter unterstellt. Als ob nicht Leute auch deshalb geknickt sein können, weil ihnen ihr Spielzeug und ihr Sklave abhanden gekommen ist.

Nachdem die Autorin weggelaufen ist, versuchen die Eltern, unbedingt Kontakt mit ihr zu bekommen und sie zur Heimkehr zu bewegen. Sie zeigen sich nach Ansicht der Autorin „sehr kooperativ". Auf der SELBEN Seite wird geschildert, wie der Vater den Bruder der Geflüchteten losschickt, insgeheim aber hinterdreinläuft und den Sohn instruiert, diese geheime Begleitung nicht zuzugeben, sondern abzuleugnen.

Obwohl die Eltern „kooperativ" genannt werden, erzählt die Tochter den Eltern aus Angst nicht, sie habe einen deutschen Freund – das Risiko ist zu groß, eine Einschätzung, mit der Ates sicher richtig lag (117). Zentrales Problem der Tochter. Sie hat durch ihr Abhauen den Vater „so erniedrigt"(117) und „Ich hatte ihnen schon genug angetan" (118). Dabei hat sie zur selben Zeit extreme Angst, ihr Vater könne ihr etwas Schlimmes antun (118). Was soll die vielberufene Kooperativität? - Auch hier empfinde ich: Herzlose, autoritäre Eltern werden gerechtfertigt. In der freudianischen Psychologie nennt man das „Identifikation mit dem Aggressor".

Nachdem Ates ihren Eltern „schon genug angetan" hatte, wollte sie ihnen, schreibt sie, nicht auch noch antun, ihnen „einen deutschen Freund zu präsentieren". Was war dieser Freund? - Ein damals 29jähriger ausgebildeter, berufstätiger, fest angestellter Lehrer (119), nach deutschen Begriffen das, was man „eine gute Partie" nennt - vermutlich nach türkischen Begriffen auch - wenn man davon absieht, dass der Mann kein Türke und kein Muselman war.

Die Mutter des deutschen Freundes Stefan ist zunächst gegen die Beziehung ihres Sohns mit einer Türkin. Sie schreibt ihrem Sohn, es könne sein, dass auf ihn eine Attentat verübt werde. Die Autorin kommentiert diese Einschätzung so: Der Brief der Mutter war „voller Vorurteile" – MEIN Eindruck: Die Autorin scheint an dieser Stelle vergessen zu haben, dass sie selbst Opfer eines - lebensgefährlichen - Attentats wurde, und zwar nicht durch einen Deutschen, sondern einen Türken.

Obwohl die Autorin die Schwiegermutter als „verhaltensgestört" beurteilt (S. 120), erklärt sie nur ein einzige Textseite weiter: „Ich konnte nicht begreifen, wie abschätzig Stefan von seiner Mutter sprach".. „Ich fand es unfassbar, dass er sie nur widerwillig besuchte."

Wie wenig die Autorin Abstand zu den Begrenztheiten ihrer eigenen Existenz hat, zeigt sich, wenn sie nur wenige Zeilen nach diesem Satz anmerkt: „Es fiel mir immer schwer zu begreifen, warum so viele meiner deutschen Freundinnen und Bekannte ihre Eltern als Feinde betrachteten". (121). ICH merke dazu an: Wenn die deutschen Freunde von Ates ihre nicht mal so schlimmen – Eltern SO kritisch sehen, wieviel mehr hätte die Autorin dazu Anlass gehabt.

Beim Stichwort „Lesben und Schwule" äußert die Autorin, „Moral und Unmoral" würden „jeweils willkürlich definiert". - Eine NICHT-willkürliche Definition finden wir aber bei Ates nirgendwo.

Seltsamkeiten der türkischen „Kultur":

Die Autorin empfiehlt mehrfach, Deutsche sollen etwas von der türkischen „Kultur" lernen. Dabei schildert sie fast durchweg Züge dieser Kultur, die ich nicht als positiv empfinden kann.

Einige Beispiele. Ein liebender Mann darf seiner Angebeteten keine Briefen schreiben; das gilt unter Türken als unanständig. - „Die Liebe (der Eltern zueinander) durfte niemals öffentlich gelebt werden. Es war ja nicht einmal erlaubt, sein eigenes Kind in Gegenwart eines Älteren zu liebkosen. Mein ältester Bruder Kemal... kam einmal angekrabbelt, als die ganze Familie beisammensaß, und wollte auf den Schoß meines Vaters klettern. Vater schubste ihn ganz grob von sich, weil es nicht erlaubt war, vor den Augen des eigenen Vaters sein Kind in den Arm zu nehmen" (22f). - Wenn die Schwiegertochter aus einer türkischen statt einer kurdischen Familie kommt, dann braucht die kurdische Familie für die ärztliche Versorgung des Kindes der Türkin kein Geld ausgeben, das Kind ist ja ein Bastard S. 23 - Weibliche Kinder sind keine Wunschkinder S. 29 - Weibliche Kinder dürfen kaum aus dem Haus, weil sonst die „Ehre" der Familie gefährdet werden könnte (S. 51f und a. a. O.). Wenn die kleine Ates sich weiter vom Elternhaus entfernt, als die Eltern aus dem Fenster übersehen können, erhält sie Schläge, „ziemlich viel" 52. - „Jungs mussten nicht im Haushalt helfen." 53 - Wenn das Kind Seyran einer Anordnung der Eltern widerspricht „setzte es meist Schläge" 53 „Wenn meine Mutter mich schlug, fand mein Vater das richtig, und umgekehrt. Mein Bruder Kemal schlug mich am meisten, einige Jahre lang fast täglich. Auch daran hatten meine Eltern nicht auszusetzen. Es hieß immer: Du musst schon was angestellt haben, sonst würde er dich nicht schlagen." 53

Der Bruder behandelte Seyran „wie seine persönliche Sklavin... mit dem Segen meiner Eltern... Wenn ihm etwas nicht gefiel, schlug er mich. Wenn ich weinte, schlug er mich noch mehr.". 53 Sie habe daher früh den Traum entwickelt, frei zu sein, „selbstbestimmt leben zu können, ohne der Willkür eines anderen Menschen ausgesetzt zu sein." 54

„Es war schön, in einer Großfamilie zu leben, aber es hatte eben auch ein paar Nachteile, die ständige Kontrolle war einer davon". 55 (hier sollte noch zusätzlich erwähnt werden die ständige, mehrfach von Ates notierte Denunziation).

Der Bruder der Autorin soll eine Frau heiraten, die die Eltern für ihn ausgesucht haben. Er will das nicht und bekundet seinen Widerspruch MEHRFACH.. „Alle meinten, es sei lediglich eine Laune von Kemal, in Wirklichkeit würde er schon wollen."

Die Autorin: „Ich war fest entschlossen, mich nicht mehr wie Dreck behandeln zu lassen, nur weil ich ein Mädchen war und über ein Stück Haut verfügte, für das sie bereit waren, die Welt auf den Kopf zu stellen" (Mit „Haut" ist das Jungfernhäutchen gemeint. Vermutlich wird der Begriff nicht verwendet, weil er als obszön angesehen wird, was für Worte wie „Nutte" nicht gilt.)

Zwar werden vor allem türkische Männer von der Autorin kritisiert, aber was schildert sie von zahlreichen Frauen, unter anderem von ihrer Mutter: „Wie ich lebte, interessierte sie nicht. Sie sah nicht einmal, wie unglücklich war. Wir waren schließlich Frauen, und Frauen lebten nun mal unterdrückt. Frauen hätten nie was zu sagen gehabt. Das sei seit Menschengedenken so. Ihre Großmutter und ihre Mutter hätten auch so gelebt., alle Frauen, die sie kenne, lebten so." 106

Ein Türke kriegt in der U-Bahn mit, dass Ates einen deutschen Freund hat. Sie wird daraufhin von dem Türken beschimpft (119). Auch ihr ebenfalls anwesender türkischer Begleiter wird beschimpft: Wie er zulassen könne, dass Ates sich als Türkin einem Deutschen hingebe! (119)

Dass der Verweis auf türkische Kultur keine Trumpfkarte ist, erkennt die Autorin auch nicht, als ihr – nach dem Attentat auf sie – von verschiedenen Türken entgegengehalten wird, das Attentat sei ihr nur passiert, weil sie bei der Arbeit in einem Frauenhaus für Türkinnen „kulturelle Werte" der Türken nicht berücksichtigt habe, „sprich: die Geschlechterrollen in der türkischen Gemeinschaft" nicht akzeptiert habe (163)

Im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den wahrscheinlichen Attentäter berichtet Ates wiederholt von Versuchen, Zeugen zu beeinflussen (177). Das wird berichtet, nicht kommentiert; die Autorin echauffiert sich hier nicht, sondern erst, wenn es um Mängel des DEUTSCH dominierten Justizapparates geht.

An ihrem Ideal eines Austauschs der Kulturen wird die Autorin auch nicht irre angesichts ihrer Feststellung, dass die „türkische und kurdische Kultur" durch Gewaltbereitschaft gekennzeichnet seien (?). Alles was ihr dazu einfällt, ist folgende Plattitüde: Diese Gewaltbereitschaft „wird mir wohl für immer ein Rätsel bleiben." Die Autorin beobachtet aber immerhin: Die Gewaltbereitschaft „löst sich nur dort ein wenig auf, wo Türken und Kurden viele deutsche Kontakte pflegen. Ansonsten ist es im Augenblick der zentrale Unterschied zwischen unseren Kulturen." .. Überhaupt scheint die Bereitschaft, jemanden umzubringen, bei Türken und Kurden eher ausgeprägt zu sein als bei anderen europäischen Menschen." 239.

Auf der folgenden Seite versucht die Autorin trotzdem eine Art Gleichwertigkeit zwischen Deutschland und Türkei zu statuieren, mit den Sätzen: „1984 wurde ich in einem Frauenladen für Frauen aus der Türkei fast umgebracht, weil ich mich für Frauenrechte einsetzte. 1684 wäre ich in Deutschland wahrscheinlich als Hexe verbrannt worden. Wo ist da der Unterschied?" (240) – ICH meine: Die Antwort ist einfach, der Unterschied liegt in den Jahreszahlen, 1684 und 1984.

Ates schreibt, die Gewaltsamkeit in ihrer Herkunftsethnie sei „bestimmt nicht genetisch bedingt." Als einzige Erklärung für diese Gewaltsamkeit bietet Ates die Verführung der Türken durch Schlagertexte an (240). „Tötet, was ihr nicht haben oder behalten könnt, überlasst es nicht einem anderen. So singen es die Schlager vor, und eine Vielzahl des türkischen Volkes .... folgt gehorsam." 240

Zwei andere Rezensionen der Autobiographie

Ich schaue mir im Internet Rezensionen der Ates-Autobiographie an. Der Tenor der zwei vorgefundenen Rezensionen ist weitgehend positiv. Dies sei hier eigens erwähnt, weil ich selbst so viel zu monieren fand.

Elke Nicolini drückt in der Süddeutschen Zeitung vom 19. 5. 03 (vermutlich ihr eigenes) Unbehagen aus, wenn sie schreibt: „Es mag für deutsche Leser seltsam klingen, wie sehr die Autorin ihrer Familie verbunden bleibt, obwohl sie sich lieblos behandelt fühlt, und trotz der Gewalt, die sie erfährt." – Die Rezensentin schränkt ihr Unbehagen aber kulturrelativistisch ein, indem sie von DEUTSCHEN Lesern spricht. Ich vermute: Denen muss man wohl ihre ethnisch verengte Sichtweise nachsehen J .

Rolf Löchel sieht in seiner Rezension in „literaturkritik.de » Nr. 10, vom Oktober 2003" nur „wenige, randständige Kritikpunkte", insgesamt handle es sich bei dem Buch um eine „beeindruckende Autobiographie einer bewundernswerten Frau".

Veit Feger

eMail:  Veit.Feger@t-online.de

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